Krieg? Ohne uns!
Militärstreik und Desertion im ersten Weltkrieg
Szenische Lesung – 85 min. mit TRV und
„… eine spannende und ausgezeichnete Auswahl literarischer und musikalischer Texte, die den Werdegang des Soldaten im I. Weltkrieg facettenreich in den Mittelpunkt stellt – bis hin zur Desertion!“
In einer etwa 75-minütigen Szenischen Lesung werden Rudi Friedrich von Connection e.V. und der Gitarrist Talib Richard Vogl denjenigen Raum geben, die sich mit ihrer Desertion oder auf andere Art und Weise gegen den I. Weltkrieg wandten. Mit Texten u.a. von Dominik Richert, Ernst Toller, Wilhelm Lehmann und Richard Stumpf, mit Gedichten, Liedern und Musik werden sie ihren Erlebnissen, Gedanken, Motiven und Konsequenzen nachgehen, auch mit Verweis auf die aktuelle Bedeutung.
Rudi Friedrich beschäftigt sich im Rahmen seiner Arbeit bei Connection e.V. seit Jahrzehnten mit Kriegsdienstverweigerung und Desertion weltweit. Er ist international für sein Wissen und seine Erfahrung geschätzt. Immer wieder führte er auch mit Lesungen und anderen künstlerischen Formen in die Thematik ein.
Talib Richard Vogl studierte Gitarre an der Hochschule für Musik in Frankfurt am Main und belegte zahlreiche Meisterkurse und eine Ausbildung zur Sprecherziehung und Stimmbildung. Neben konzertanter Kammermusik bis hin zum Flamenco gilt sein Interesse insbesondere interdisziplinären Projekten wie szenischen und konzeptionellen Lesungen.
Rudi Friedrich (Trompete, Lautpoesie, Gesang, Lesung) und Talib Richard Vogl (Gitarre, Lautpoesie, Gesang, Lesung) bieten mit einer tiefsinnig und kurzweilig gestalteten Szenischen Lesung einen aufschlussreichen Einblick in die damalige Zeit. Nach der Szenischen Lesung wird es die Möglichkeit für ein Gespräch geben.
„… bei dieser Szenischen Lesung wird neben der Grausamkeit besonders auch die Absurdität des Krieges gezeichnet …“
Zum Hintergrund
Am I. Weltkrieg 1914 bis 1918 beteiligten sich 40 Staaten, 70 Millionen Soldaten standen unter Waffen. Insbesondere in Westeuropa, auf dem Gebiet Frankreich und Belgiens, entwickelte sich eine Material- und Menschenschlacht zwischen den Kriegsparteien. Für die Soldaten wurden die über Jahre hinweg industrialisiert geführten Gefechte in den Schützengräben zur alltäglichen Realität. Fast zehn Millionen Soldaten starben, die Anzahl der zivilen Opfer wird auf weitere sieben Millionen geschätzt
In Deutschland war 1914 die Kriegsdienstverweigerung so gut wie unbekannt. Trotz einer anfänglichen Kriegsbegeisterung entzogen sich aber zunehmend Rekruten und Soldaten der Beteiligung am I. Weltkrieg. In den Marinehäfen traten 1918 Soldaten in den Streik. Zwischen 750.000 und 1 Mio. entzogen sich auf unterschiedlichste Art dem Dienst oder verschwanden in der Etappe. Insbesondere im zaristischen Russland und in Deutschland desertierten 1917 und 1918 sehr viele Soldaten. Sie wendeten sich damit gegen die Weiterführung eines Krieges. Es handelte sich um einen verdeckten Militärstreik.
Daran anknüpfend gab es in der Weimarer Republik intensive Diskussionen über Strategien der Kriegsdienstverweigerung und andere Möglichkeiten des Widerstandes gegen Krieg. Die War Resisters‘ International wurde aufgrund der Erfahrungen von Kriegsdienstverweigerern nach dem I. Weltkrieg 1921 gegründet. In einigen nachfolgenden und auch in aktuellen Kriegen hatte und hat die Verweigerung der Kriegsbeteiligung große Bedeutung. Die Erfahrungen des I. Weltkrieges zeigten, dass Kriegsdienstverweigerer und Deserteure Unterstützung und Schutz vor dem Zugriff der kriegsführenden Parteien brauchen. Das gilt bis heute.
Wilhelm Lehmann (* 4. Mai 1882 in Puerto Cabello,
Venezuela; † 17. November 1968 in Eckernförde), Schriftsteller,
Lehrer und Naturliebhaber, war im I. Weltkrieg lange
zurückgestellt. Er wurde 1917 zur Infanterie eingezogen,
desertierte jedoch beim ersten Fronteinsatz im September
1918. Seine Kriegserlebnisse schilderte er in dem Roman
»Der Überläufer« (Donat Verlag, Bremen). Es sind Auszüge
aus den beim Verlag Klett-Cotta, München, erschienenen
Gesammelten Werken. Das alter ego Lehmanns im Roman
heißt Hanswilli Nuch und ist Angestellter in einem
Getreideexportgeschäft.
Dominik Richert (* 4. Mai 1893 in St. Ulrich, Elsass; † 27. März
1977 ebenda), war ein Landwirt aus dem Elsass. Er war
während des gesamten I. Weltkrieges auf deutscher Seite
Frontsoldat vor allem an der Westfront. Gemeinsam mit
zwei weiteren Soldaten desertierte er im Juli 1918. Richerts
Kriegserinnerungen wurden in Deutschland erst 1989
erstmals unter dem Titel »Beste Gelegenheit zum Sterben«
vom Verlag Knesebeck, München, veröffentlicht. 1992
wurde auf Grundlage des Buches ein gleichnamiger
Dokumentarfilm produziert.
Ernst Toller (* 1. Mai 1893 in Samotschin, Provinz Posen;
† 22. Mai 1939 in New York City, USA) studierte in Frankreich.
Trotz dieses Auslandsaufenthaltes ging er 1914 als Freiwilliger
in die Artillerie des Deutschen Reiches. Später wurde er
ausgemustert und gründete mit anderen Studenten den
»Kulturpolitischen Bund der Jugend in Deutschland«, um gegen
den Krieg aktiv zu sein. Daraufhin wurde er verhaftet und
erneut einberufen. Nach Einweisung in die Psychiatrie wurde
er 1918 endgültig aus dem Militär entlassen. Er schrieb seine
Erinnerungen in dem Buch »Eine Jugend in Deutschland«
nieder, das 1933 im Querido Verlag, Amsterdam, erschien.
Richard Stumpf (* 20. Februar 1892 in Gräfenberg, Bayern,
† 23. Juli 1958 in Heiligenstadt, Eichsfeld), katholisch, war
ein Zinngießer und Mitglied einer christlichen Gewerkschaft.
Von 1912 bis 1918 diente er in der Hochseeflotte der
Kaiserlichen Marine. Kurz vor Beginn des I. Weltkrieges
begann er ein persönliches Tagebuch zu führen. Seine
Aufzeichnungen setzte er bis zum Ende des Krieges fort.
In dem Tagebuch schildert er ausführlich die inneren
Verhältnisse in der Flotte aus Sicht eines einfachen
Matrosen. Es erschien 1927 im Verlag J.H.W. Dietz
Nachfolger, Berlin. Richard Stumpf war an dem Aufstand
der Matrosen in Wilhelmshaven 1918 beteiligt.
Beste Gelegenheit zum Sterben
Bericht über die Szenische Lesung zu Militärstreik und Desertion im I. Weltkrieg
(26.10.2018) Kriegsdienstverweigerung war jahrzehntelang ein zentrales Thema der DFG-VK, trat aber spätestens nach der Aussetzung der Wehrpflicht 2011 in den Hintergrund. Seit in diesem Sommer nicht nur von CDU-Politikern eine Wiedereinführung der Wehrpflicht gefordert wurde, ist es notwendig, dass wir Kriegsdienstverweigerung wieder verstärkt ins öffentliche Bewusstsein rücken. Hilfreich kann dabei auch ein Blick zurück sein. Mit ihrem Programm „Krieg? Ohne Uns! – Szenische Lesung zu Desertion und Militärstreik im Ersten Weltkrieg“ rufen Rudi Friedrich und der Gitarrist Talib Richard Vogl sehr eindringlich anhand von vier Einzelschicksalen Desertion und Verweigerung am Ende des I. Weltkriegs in Erinnerung.
Von ihnen heute sicher noch am Bekanntesten: Ernst Toller, nach dem Krieg ein führender Kopf der Münchner Räterepublik. Vor dem Krieg studierte er in Frankreich und ging trotzdem als Freiwilliger zur Artillerie, wurde später ausgemustert, aber wegen seiner Antikriegsaktivitäten erneut einberufen. Endgültig aus dem Militär entlassen wurde er nach der Einweisung in die Psychiatrie. Verarbeitet hat Toller seine Erlebnisse in dem Buch „Eine Jugend in Deutschland“, immer noch ein sehr fesselnder und lesenswerter autobiografischer Bericht mit dem Fazit: „Der Krieg ließ mich zum Kriegsgegner werden“ (S. 74).
Dominik Richert, Landwirt aus dem Elsass, war Frontsoldat während des gesamten Krieges. Er desertierte im Juli 1918 an der Westfront. Seine Kriegserinnerungen wurden erst Mitte der 80er Jahre entdeckt und 1989 unter dem Titel „Beste Gelegenheit zum Sterben“ veröffentlicht. Er beschreibt in seinen Aufzeichnungen ungeschönt die Kriegsgräuel, den massenhaften, sinnlosen Tod, den Hunger und die Entbehrungen. Die von Talib Richard Vogl vorgetragenen Passagen gehören zu den eindringlichsten des Abends.1
Richard Stumpf, Zinngießer aus Nürnberg, war Marinesoldat und beteiligt an den Aufständen in Wilhelmshaven im Jahr 1918. Seine Tagebucherinnerungen erschienen gekürzt in den 1920er Jahren, eine ungekürzte Fassung nur auf englisch 1969 in den USA.
Letzter Protagonist in der Lesung ist der Schriftsteller, Lehrer und Naturliebhaber Wilhelm Lehmann. Er desertierte bereits beim ersten Fronteinsatz. Seine Kriegserlebnisse schilderte er in dem Roman „Der Überläufer“, der wohl ersten positiven Schilderung einer Desertion in der deutschen Literatur. Eine gekürzte Fassung ist 2014 im Donat-Verlag erschienen und noch lieferbar.
Die sehr gelungene Textauswahl und die sparsamen, aber wirkungsvollen, Requisiten machen das brutale, stumpfsinnige und gänzlich unheorische Soldatenleben im ersten Weltkrieg sehr lebendig. Rudi Friedrich und Talib Richard Vogl gelingt es mit ihrer hervorragenden Interpretation der Texte, den eindringlichen lautpoetischen Klangexperimenten und der musikalischen Unterstreichung mit Trompete, Gitarre und Trommel eine beeindruckende Inszenierung. Nicht zu vergessen die zeitgenössischen Lieder, Märsche und Gedichte, die außerdem zu dem aufschlussreichen Blick auf die damalige Zeit beitrugen. Sehr gelungen auch die Auswahl und verdichtete Bearbeitung der vorgestellten Texte und der verzweifelt schwarze Humor („Beste Gelegenheit zum Sterben“). Die Erfahrungen des Ersten Weltkrieges zeigen, dass Kriegsdienstverweigerer und Deserteure Unterstützung und Schutz vor dem Zugriff der kriegführenden Parteien brauchen: eine Verpflichtung für uns bis heute. Das Programm regt unweigerlich zur Weiterbeschäftigung mit den vorgestellten Schicksalen, Kriegsdienstverweigerung und Desertion an.
Rudi Friedrich ist Mitarbeiter von Connection e.V. in Offenbach, einem Verein, der seit Jahren Kriegsdienstverweigerer und Deserteuren weltweit unterstützt. Mit diesem Programm zeigt er seine künstlerische Begabung zum ersten Mal einem größeren Publikum. Talib Richard Vogl hat Gitarre studiert und eine Ausbildung zur Sprecherziehung und Stimmbildung. Rollenpräsenz und der für die jeweilige Rolle charakteristische Vortragstil trugen zu der rundum gelungenen Premiere in Karlsruhe bei, der eine hoffentlich noch erfolgreiche Tournee mit vielen weiteren Auftritten folgt.
1 Der Bayerische Rundfunk produzierte 1992 einen Film über das Schicksal von Dominik Richert: https://www.youtube.com/watch?v=82jYf9WgfJw&feature=youtu.be
Stefan Lau: Beste Gelegenheit zum Sterben. 26. Oktober 2018. Der Text erscheint in der ZivilCourage 6/2018, Das Magazin für Pazifismus und Antimilitarismus